Russisches Desinformationsökosystem

In einem Interview von Sven Scharf mit dem Kommunikationsexperten Lutz Güllner: Russische Desinformationskampagnen “In den sozialen Medien sehen wir verdeckte Geheimdienstoperationen” Spiegel 27.10.2022 (hinter der Bezahlschranke) wird beschrieben, wie russische Desinformation mit unterschiedlichen Instrumenten und Gruppen arbeitet, die nicht alle zentralisiert und gesteuert sind. Dieses “Desinformationsökosystem” fügt einerseits willkürliches Bildmaterial mit konstruierten Erzählungen zusammen, die leicht im Internet als Fake entlarvt werden können. Dem gegenüber stehen hochprofessionelle Kampagnen, z.B. das zahlreiche Klonen von Presse-Webseiten. Ziel sind zwei Dinge: “Erstens: Personen zu überzeugen oder zumindest zu verunsichern. Und zweitens: Manchmal geht es gar nicht darum, die Leute direkt von der russischen Sichtweise zu überzeugen, sondern einfach nur darum, Verwirrung zu stiften.” Die Entwicklung zahlreicher Narrative oder die Kombination von Informationen mit falschen Kontexten soll zur Desorientung der Empfänger führen. Offizielle Verlautbarungen, staatliche Medien, Internetportale ergänzen einander. “In den sozialen Medien sehen wir geradezu verdeckte Geheimdienstoperationen: mit falschen Identitäten, mit Verstärkungen oder mit Strategien, um die Inhalte stärker zu verbreiten zu verstärken.”

Ende der sozialen Medien

Severin Pomsel: Das Ende der sozialen Netzwerke – Facebook, Instagram und Co. sind zum Massenmedium geworden. Facebook und Instagram passen ihre Algorithmen an: Der eigene Freundeskreis wird immer unwichtiger. Der soziale Austausch ist längst dem passiven Medienkonsum gewichen. Neue Zürcher Zeitung 06.08.2022 (hinter der Registrierschranke) sieht in der Änderung der Algorithmen von Facebook und Instagram einen grundsätzlichen Paradigmenwandel. Das klassische soziale Netzwerk, in dem Inhalte mit Freunden geteilt werden und diese mit Kommentaren und Likes reagieren, ist schrittweise verändert worden zunächst durch die Ablösung des chronologischen Newsfeed durch das Beliebtheitskriterium und dem damit eingehergehenden Bedeutungsverlust des engsten Freundeskreises. Jetzt setzt sich die Logik von Youtube und Tiktok durch: Nutzer produzieren Inhalte, die nach Algorithmen für die Konsumenten ausgewählt und durch deren Nutzerverhalten optimiert werden. Nicht die Vernetzung, sondern der Konsum von Inhalten steht im Vordergrund.
“‘Sozial’ sind die Netzwerke heute nicht mehr. Und an die Stelle des Netzwerks ist ein `Verteilzentrum’ getreten. Aus den Plattformen sind digitale Massenmedien geworden. Sendestationen mit einem unendlichen Pool an Inhalten, die jedem Nutzer ein massgeschneidertes Programm zusammenstellen.”

Herrschaft der Bots

Andrian Kreye: Ihr seid nicht real. Bots können im Internet Falschnachrichten texten, Kreditkarten abfangen, Börsenkurse, Preise sowie Meinungen manipulieren. Und es gibt davon viel mehr, als bekannt ist, Süddeutsche Zeitung 07.04.2022 (hinter der Bezahlschranke) und 15.07.2022 in der Papierausgabe untersucht den Anteil der Bots auf Twitter sind. Er zitiert die Münchner Cybersecurity-Firma Fraudo.com, wonach bei Twitter 17 %, auf Tiktok 78%, auf Reddit 80% Bots. “Wenn man das komplette Internet mit allen Plattformen, Webseiten und Netzwerken betrachtet, beträgt der Anteil der Roboter unter den Besuchern derzeit 56 Prozent. Es sind also mehr Roboter im Netz unterwegs als Menschen.” Betrug für die Werbeindustrie wird generiert, indem eine falsche Webseite angelegt wird, bei der Bots Publikumsverkehr vortäuschen. Die destruktive Wirkung auf den politischen Diskurs durch simple Slogans befördern Populisten und Desinformation.
Auf der Seite sparktoro.com kann man mit dem Tool Fake Followers Audit die eigenen Twitter-Konten daraufhin untersuchen, welcher Anteil Bots unter den Followern sind. Bei Joe Biden sind dies z.B. 50,6 %

Nachrichtenmüdigkeit – Fatigue

Das Reuters Institute, eine britische Denkfabrik der Universität Oxford, die sich hauptsächlich aus Drittmitteln finanziert, hat ihren jährlichen Bericht 2022 vorgelegt. 92.000 Menschen auf sechs Kontinenten wurden befragt. Die wichtigsten Ergebnisse:
– Bei bis zu einem Drittel der Menschen (teilweise in Brasilien 54 Prozent und Großbritannien 46 Prozent herrscht eine Nachrichtenmüdigkeit (Fatigue) vor: Nachrichten werden entweder bewusst gemieden oder selektiv gemieden
– Das Interesse an Nachrichten geht vor allem bei zwei Gruppen zurück: 1. Jüngere, weniger gut ausgebildete, online aktive Menschen. 2. Menschen, die sich nicht auf neue Angebote des Internet einlassen wollen.
– Jüngere Menschen mit einer Affinität zu sozialen Medien konsumieren Nachrichten eher bei Instagram, TitkTok, Youtube oder Spotify
Bleiben viele Menschen in einem Gefühl der Machtlosigkeit zurück?
“More people are disconnected, interest in news is down, selective news avoidance up, and trust far from a given. The Ukraine crisis, and before it the COVID-19 pandemic, have reminded people of the value of accurate and fair reporting that gets as close to the truth as possible, but we also find evidence that the overwhelming and depressing nature of the news, feelings of powerlessness, and toxic online debates are turning many people away – temporarily or permanently. Paywalls and registration gates may not be helping either, putting further barriers in the way of the content that audiences want to consume, even as they are creating more sustainable businesses for some.”

Digital News Report 2022
Executive Summary
Video Summary
Esther Menhard: Reuters Digital News Report: Mehr Menschen meiden News, netzpolitik.org 17.06.2022

Bellingcat Tools

Bellingcat, das investigative Recherchenetzwerk, das als Open Source Intelligence (OSINT) agiert, hat verschiedene Tools für investigative Recherchen zur Verfügung gestellt:

1. Öffentlich zugängliche vorhandene Werkzeuge
Bellingcat’s Online Investigation Toolkit [bit.ly/bcattools] Tabellarische Übersicht von Tools zu WHOIS, IPs, & WEBSITE ANALYSIS

Bellingcat Osint Landscape tabellarisch (Stand: 2018)
Bellingcat Osint Landscape grafisch (Stand 2018)
Dazu ist aktuell zu ergänzen:
Osint Framework

2. Extra entwickelte Tools auf Github
Ein neues Tool ist gerade im Mai vorgestellt worden:

Anonymer Drache
Anonymer Fuchs
Anonymer Kormoran
Anonymer Kürbis
 Freigeben

Twitter-Datenanalyse Diskussion Corona

Dana Hajek: Wir gegen die, Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.02.2022 legt eine statistisch und grafisch aufbereitete Datenanalyse vor. Analysiert wurden alle deutschsprachigen Tweets, Retweets und Replys zwischen dem 1. November 2021 und dem 9. Dezember 2021, die den Suchbegriff #Impfung enthalten. Es wird sichtbar, “wie stark die Debatte polarisiert: mit den dichten, sehr engmaschig vernetzten Impfkritikern auf der einen Seite und den loser vernetzten Accounts der Impfbefürworter auf der anderen Seite. Es hat sich eine sprachliche als auch eine thematische Abgrenzung zwischen den Gruppen herausgebildet, obwohl sie denselben Hashtag verwenden. Anders gesagt: Sie streiten nicht miteinander. Sie ignorieren sich.”
Die Analyse konstatiert einen rasanten Zuwachs der Impfkritiker innerhalb eines Jahres, der auf 7 Merkmale zurückzuführen ist. 1. Impfbefürworter agieren “heterogen, weil sie über keine einheitliche politische Agenda verfügen” gegenüber einer thematischen Übereinstimmung bei Impfkritikern. 2. Die Knoten der Impfgegner sind weniger, aber ca. 10 % größer. 3. Impfkritiker besetzen “Knoten, die eine extrem hohe Zahl von Verbindungen aufweisen” (Hubs) 4. Die Vernetzung der Impfkritiker konzentriert sich auf einen Kern von 247 Accounts. 5. Impfkritiker verwenden zur Verbesserung ihrer Sichtbarkeit diverse Hashtags. 6. “Im Kern der Impfkritiker befinden sich die zehn aktivsten Nutzer des gesamten Netzwerks.” 7. Impfbefürworter betonen den Nutzen der Corona-Impfung, Kritiker verbreiten diverse Narrative. Hajek stellt eine “zweigeteilte Welt” fest, in der es unklar ist, wie Wissenschaftskommunikation aufklärerisch einwirken kann.

Recherche mit Twitter

In dem Video “Recherche mit Twitter” der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin werden einfache und erweiterte Suchmöglichkeiten mit verschiedenen Suchoperationen ausführlich erläutert.

Fake News und IWT-Memes erkennen

Die Gruppe Data Science von armasuisse Wissenschaft und Technologie (W+T) und die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) arbeiten an Algorithmen, mit denen Künstliche Intelligenz gegen Desinformation im Netz eingesetzt werden kann. Gérôme Bovet und Sarah Frei: Künstliche Intelligenz im Einsatz gegen Desinformation in sozialen Netzwerken, in: armafolio 02/2021 beschreiben dabei drei Ansätze, die dabei Natural Language Processing (NLP) einsetzen:
1. Mit Nutzerverhalten in den sozialen Medien (Text- und/ oder Bild) werden Modelle mit sprachlichen und sentimentalen Merkmalen trainiert, die Emotionalität von Information einordnen können. “Das ist wichtig, weil die Verbreitung falscher beziehungsweise radikaler Aussagen oft mit einer hohen Emotionalität des Beitrags einhergeht.” Gegenüber normalen Einsätzen von NLP entsteht bei Twitter die Herausforderungen, “mit wie kurzen Texten das Programm arbeiten soll” (Gérôme Bovet: «Fake News» schneller erkennen, Bundesamt für Rüstung armasuisse 26.10.2020).
2. Erkennung und Klassifizierung von Memes: IWT-Memes (englisch: Image with Text-IWT, deutsch: Bild mit Text), die zur Desinformation eingesetzt werden, sollen unter Einsatz von Convolutional Neural Networks identifiziert und binär klassifiziert in die Kategorien IWT-Meme-Bild bzw. Nicht-IWT-Meme-Bild werden. “Bei der Ermittlung des Inhalts werden durch die Bestimmung des Themas und der Emotionalität des Inhalts Rückschlüsse darauf gezogen, ob es sich um Desinformation handeln könnte oder nicht. Desinformation beinhaltet häufig Themen, welche sozial spaltend wirken und, damit verbunden, negative Gefühle beim Betrachter oder der Betrachterin verstärken können.”
3. Analyse des Kontoverhaltens auf Twitter durch gerichtete Graphen. “Anhand eines solchen Graphen kann ein Algorithmus durch Berechnung verschiedener statistischer Parameter bestimmen, wie sich ein Beitrag in sozialen Netzwerken, in diesem Fall Twitter, verbreitet hat. Zu diesen Parametern gehören der Vernetzungsgrad eines Kontos (wie viele Nutzer und Nutzerinnen dem Konto folgen und wie vielen Nutzern und Nutzerinnen das Konto selbst folgt).” Social Bots weisen dabei ein charakteristisches Verhältnis zwischen Wurzelknoten, Retweets und kurzfristig neu geschaffenen Followern auf.

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