Anonymität und moralische Scheinwelt

Andre Kieserling: Moralische Scheinwelt. Wie die Anonymität im Netz zur Eskalation der Debatten führt, Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.12.2023 (hinter der Bezahlschranke) wendet die Erkenntnisse zweier amerikanischer Moralphilosophen über “Grandstanding, Gebrauch und Missbrauch moralischer Gespräche”, auf die sozialen Medien des Internet an. “Ihre Hauptthese lautet, dass die Eiferer die Achtung der Gleichgesinnten zu gewinnen suchen, dies aber unter extrem ungünstigen Bedingungen tun müssen.” Man kann die eigene moralisch wertvolle Handlung, die zeigt, wie gut man ist, nicht einfach behaupten. Dies würde zu Misstrauen und Ablehnung führen. “Dann bleibt als Mittel vorteilhafter Selbstdarstellung nur das Urteil über die Handlungen anderer.” Neuerer und Dissidenten gehen dabei Risiken und Nachteile ein, es sei denn, sie handeln anonym. Aber Anonymität oder auch das Schwimmen im Mainstream führen nicht zu der gewünschten Anerkennung. Abhilfe kann zum einen die Erfindung eines Meinungsklimas aus lauter Denkverboten sein, gegen das man sich “mutig” stemmt. Zum anderen kann man sich unter Gleichgesinnten im Mainstream durch noch stärkere Formulierungen, Vorwürfe und Sanktionen profilieren. “Am Ende werden dann Mikro-Aggressionen erfunden, unter denen niemand im Ernst leidet, die anzuprangern aber ein Höchstmaß an moralischen Feingefühlt bezeugt.”

Tosi, Justin & Warmke, Brandon (2020). Grandstanding: The Use and Abuse of Moral Talk. New York: Oxford University Press. Edited by Brandon Warmke.
Brandon Warmke: Moral Grandstanding: Why Status-Seeking Destroys Public Discourse Youtube 24.01.2023