Der Soziologe Oliver Nachtwey hat in einem Vortrag, Interview und Working Paper den religiösen Geist des digitalen Kapitalismus analysiert.
re:publica 2019 – Oliver Nachtwey: Der Geist des digitalen Kapitalismus. Solution und Techno-Religion
Interview auf dctpTV Der religiöse Kapitalismus der Internet-Giganten
Working Paper Die Ethik der Solution und der Geist des digitalen Kapitalismus
“Im digitalen Zeitalter erleben wir die Entstehung eines neuen polytheistischen Geistes des Kapitalismus, der vor allen Dingen aus dem Silicon Valley kommt. Der digitale Geist beruht auf einer Ethik der Solution, die vorgibt, die Welt zu verbessern, und als Nebenfolge eine metrische Lebensführung vorbringt. Technologien wie künstliche Intelligenz sind in diesem Geist nicht nur Hilfsmittel, sondern sakrale Subjekte, die auf magische Art und Weise gesellschaftliches Handeln bestimmen. Sie werden zu Göttern in der digitalen Welt. Der Mensch selbst soll so ein promethischer Gott werden. Es entsteht insgesamt eine Technoreligion.“
Solutionismus wird dabei nach Evgeny Morozov so definiert: „Das Bestreben, alle komplexen sozialen Zusammenhänge so umzudeuten, dass sie entweder als genau umrissene Probleme mit ganz bestimmten, berechenbaren Lösungen oder als transparente, selbstevidente Prozesse erscheinen, die sich … leicht optimieren lassen.“ Für normative Trade-Offs z.B. zwischen Freiheit und Sicherheit, demokratische Kompromisse und letztlich die parlamentarische Demokratie bleibt dabei kein Platz. Da die digitale Technik die Lösungen bietet, erscheint der Staat in libertärer Sichtweise nur als überflüssig, der im Wege steht und nur partikulare Interessen verteidigt.
„Es handelt sich bei dem neuen digitalen Geist nicht um eine monotheistische, sondern um eine postmoderne Religion, die Versatzstücke verschiedener Weltreligionen und religiöser Praktiken miteinander verkoppelt und dabei auf eine kohärente Metaphysik verzichtet Sie kombiniert transhumanistische Heilslehren und Lösungsphantasien mit einem magischen Technikverständnis, an deren Ende neue Götter stehen.“
Der Transhumanismus hat dabei zwei Aspekte:
- Die künstliche Intelligenz soll über die komplexen Fähigkeiten menschlicher Kognition nicht nur hinausreichen, sondern auch von ihr nicht mehr nachvollziehbar sein. Die Vorstellung des absoluten Wissens, die Eliminierung von Kontingenz und vor allem des Nichtwissens ist im Grunde eine göttliche Vorstellung. „Dem Menschen unergründlich, wird sie selbst eine Gottheit.“
- In einem eschatologischen Glauben an die technologische Potentialität soll die menschliche Subjektivität in den Informationsraum hochgeladen werden. Dies beginnt schon bei der metrischen Kontrolle, die nicht nur Einkaufsgewohnheiten, sondern auch die Frequenz unserer Prokrastination und Süchte als Sünde – Abweichung von der rationalen Selbstoptimierung der liberalen Mittel- und Oberschicht – festhält.
Die Vorstellung der Transhumanität schafft nur für einige wenige der globalen Klasse aus Kreativen und Superreichen einen freien Raum. „Für alle anderen entsteht eine neue Gefahr digitaler Herrschaft, eine neues, wie es Max Weber ursprünglich genannt hatte, stahlhartes Gehäuse. Nur dass diesmal das stahlharte Gehäuse aus Algorithmen und unseren zuvor freiwillig hergegebenen Daten besteht.“
„Wir müssen die Debatte über Technologie, das Internet und soziale Medien vor allen Dingen als eine Debatte über die Zukunft der Demokratie und die Zukunft der Gesellschaft und ihren sozialen Implikationen führen.“
Dabei ist die Analyse der transhumanistischen Religion keine abgehobene Ideologiekritik, sondern hat unmittelbar praktische Folgen für diesen Diskurs. Wird sie erkannt, können wir sie ganz anders hinterfragen. Die Gesellschaft als Entscheidungsträger kann verschiedene Optionen abwägen und sich nicht einem im Fortschrittsglauben verankerten geschichtsdeterministischen Verständnis hingeben, wonach die Technik uns zwangsläufig an Orte treibt, wo in Wirklichkeit andere Triebkräfte gestalten.