Fake News und Komplottismus

Oliver Geyer: Philosophin Donatella Di Cesare über Komplottisten: „Viele fühlen sich ausgenutzt, übergangen und betrogen“. Hier Vernunft und Wahrheit, dort Pathologie und Verirrung? Wer Verschwörungstheoretiker stigmatisiere, mache es sich zu einfach, sagt die italienische Professorin Donatella Di Cesare, in: Tagesspiegel 31.05.2023 (hinter der Bezahlschranke). Di Cesare wendet sich gegen die Vorstellung eines Komplotts als Irrationalität, will somit die Spaltung zwischen Irrationalität auf der einen und Vernunft und Wahrheit auf der anderen Seite überwinden. Als politisches Phänomen verweist es auf eine immer anonymer werdende Macht, der man sich mit dem Verdacht, ausgenutzt, übergangen und betrogen zu werden, gegenübersteht. “Darum fühlen sich die Leute desorientiert und sehen keinen Fortschritt mehr. Sie empfinden die Demokratie als Täuschung. Aus dieser Ohnmacht und Entpolitisierung entsteht ein Komplottismus, der ständig fragt, wer im Hintergrund die Fäden zieht und Vorstellungen von einem ‘Deep State’ und einer ‘Neuen Weltordnung entwickelt.” Die Dichotomie von wahr und verrückt pathologisiert das Phänomen. Der Komplottismus entzieht sich dieser Dichotomie. “Der Mythos besitzt eine eigenen assoziative Syntax und labyrinthische Kohärenz, in den er seine Botschaft überträgt und die auch das Versprechen eines roten Fadens darstellt. Er besitzt seine eigene, absolute Wahrheit, die jeder Widerlegung widersteht.” Der Ansatz einer kognitiven Umerziehung muss daher scheitern. Es bleibt als Lösung nur eine “hermeneutische Gemeinschaft“, die nicht ausschließt, die verstärkten mythologischen Grundbedürfnisse erstnimmt, sich wissenschaftlichen Ergebnissen  nicht absolut alternativlos in Form von Expertenherrschaft unterwirft, sondern sie als politischen Gestaltungsraum ansieht. Das tiefe Ohnmachtsgefühl muss überwunden werden, das sich verbreitet hat und demokratische Prozesse behindert.

Sind statistische Daten Fakten?

In einem Artikel vom 02.11.2018 der Neuen Zürcher Zeitung schildert der Artikel “Das Bundesamt für Statistik schafft die Fakten für die Schweizer Demokratie. Dann macht es einen Fehler”   , wie statistische Daten offiziell verändert wurden:

“Die Statistik zur Ausschaffung von kriminellen Ausländern zeigte, dass der Staat angeblich nur 54 Prozent von ihnen ausgeschafft hatte ­– die Zahl suggerierte, dass die anderen als Härtefalle eingestuft und deshalb nicht des Landes verwiesen worden waren. Das Thema ist brisant, bisher liess sich der Effekt der Ausschaffungsinitiative nicht in Zahlen fassen. Nach der ersten Entrüstung rechnete das BfS neu: 69 Prozent. Dann löschte es die Statistik ganz von der Website.”

Sind Daten komplex, so dass sie einer Komplexitätsreduktion bedürfen, um verständlich zu sein? Sind statistische Daten Fakten oder sind sie Interpretationen? Auf welche Interpretationen einigt man sich oder sind die Interpretationen Fake-News?

“«Natürlich ist Statistik hochpolitisch», sagt Ulrich. Denn was gemessen wird und wie, ist politisch, wen man fragt und welche Fragen man stellt. «Es gibt keine Wahrheit, man kann sich nur einig sein, was man messen will.» Wie hoch ist die Armut? Die Bildung? Das Bruttoinlandprodukt? Mit den Indikatoren macht man Politik, weil man sich auf sie geeinigt hat. «Aber am Ende sucht sich in der Statistik jeder seine eigene Wahrheit, das war schon immer so», sagt Ulrich.”

“Die zurückgezogenen Ausschaffungszahlen des BfS zeigen, dass man sich immer wieder neu einigen muss, was die Fakten sind und wie sie geschaffen werden. Die Fake-News-Rufe aber haben einen Zweifel gesät: daran, dass es so etwas gibt wie Fakten, dass es überhaupt etwas gibt, worauf man sich geeinigt hat in diesem Land.”