Chaos Computer Club sucht die richtige Information

In der Präambel der Satzung des Chaos Computer Club e. V. heißt es: “Die Entwicklung zur Informationsgesellschaft erfordert ein neues Menschenrecht auf weltweite, ungehinderte Kommunikation.” Auf dem Chaos Communication Congress 2021, Remote Chaos Experience (rC3), stellt sich Mela Eckenfels, “Writer. Nerdy, dorky geekgirl”, unter dem Titel “Informationen bewerten in Zeiten der Pandemie dem “Kampf gegen Windmühlenflügel“: “Informationssuchende Menschen verheddern sich im Gewirr widersprüchlicher Zahlen und verlieren die Übersicht, welche davon Aussagekraft haben oder warum drei Stellen drei unterschiedliche Werte melden. Bei allen herrscht große Verunsicherung, ob der Weg, den wir nun gerade beschreiten, der Richtige ist und was die Zukunft bringt.”
Bis auf die innere Checkliste, in der die Notwendigkeit von Vertrauen als auch kritisches Denken hervorgehoben wird, reduziert Eckenfels Komplexität durch eine naive Skalierung :
Von innen, nach außen! Ungefiltert > gefiltert
1. Direkte Quellen: Robert-Koch-Institut, Regierungssprecher, Gesundheitsämter … (Aber nicht Augenzeugen!)
2. Vereinfachende, filternde und einordnende Quellen: Klassische Nachrichtenmedien: Tageszeitungen, öffentlich-rechtlicher Rundfunk.
3. Vereinfachende und verzerrende Quellen: Unterhaltungsmedien, BILD, Privatsender, Frauenzeitschriften.
4. Unsichere Quellen: Social Media, Influencer. Wild uneinheitliche Qualität.
5. Noch unsicherere Quellen: Buschfunk, ‘der Nachbarin ihr Vetter sein Hund hat da was gehört was nicht jeder wissen soll’.
6. Routinemäßig entstellt: Propagandamedien, Verschwörungstheoretiker, ideologisch motivierte Interessengruppen.”

Während die direkten Quellen in unangetasteter Autorität für sich stehen, ist die Realität der Medien “etwas komplexer“: Keine direkten Lügen und keine Neutralität, sondern Wechselwirkungen von Fakten und ihren Einordnungen, journalistischen “Standards” und “Berufsethos”.

Am schlimmsten sind neu entstehende Informationen, die womöglich noch “spontan” entstehen: bei ihnen bleibt allein die Hoffnung auf “offizielle Stellen“:

“Eine Information, die nur aus einer Quelle stammt, bleibt, bis sie aus anderen Quellen bestätigt wird, unsicher. Idealerweise wartet man damit, sie weiterzuverbreiten, bis sie am Besten von einer oder mehreren offiziellen Stellen bestätigt wurde.”

Einzelne Beiträge sind “unsicher” oder “wild uneinheitlich“. Wie wird wissenschaftlicher Konsens festgestellt? Wir erfahren es nicht, Hauptsache, es wird von ihm nicht abgewichen: Ansichten und Behauptungen, die vom wissenschaftlichen Konsens abweichen, müssen sachlich extrem gut begründet sein.

“Spontan auftauchende Informationen aus unbekannten Quellen sollten erst einmal in Quarantäne.” Sie dürfen erst noch “etwas abhängen”.

Mit den Unzulänglichkeiten der Menschen muss man leben, denn sie haben “keinen Computer als Gehirn“.

Als “Helfeshelfer” auf der Suche nach der richtigen Information soll die Faktenchecker-Industrie einspringen, auf deren Angebote verlinkt wird. Man selbst bildet in Harmonie “Netzwerke des Vertrauens” und bleibt natürlich vor allem eins: “kritisch“.

Von dem Demokratie- und Emanzipationsversprechen des Internet ist hier nichts mehr übriggeblieben, nicht einmal die Hoffnung.

Faktenchecks im demokratischen Diskurs

Johannes Odendahl: Fakten gecheckt – Diskussion vertagt, in: NZZ 17.10.2010 weist darauf hin, dass „öffentlich vorgebrachte Aussagen durch gewissenhafte Recherchen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen“, eine wichtige „diskurshygienische Funktion“ haben kann. Das Format des Faktenchecks allerdings „bringt es mit sich, dass sie stets lauter Richtiges sagen und dennoch manchmal in der Summe falsch liegen.“
Es droht der Text und der Kontext der Aussagen verlorenzugehen. Textauslegung beruht auf dem Konzept der “hermeneutischen Billigkeit” (charity principle), die zunächst die Intention des Autors akzeptiert und erst dort einzelne Äußerungen einordnet. Der hermeneutische Zirkel (Textinterpretation ausgehend vom vom Einzelnen und Besonderen hin zum Allgemeinen und Ganzen und von dort wieder zum Einzelnen hinab) widerspricht der normalen Vorgehensweise des Faktenchecks, die Einzelaussagen isoliert und nach einer Falsch-Richtig-Skalierung wertet, die selbst auf einem Gebiet wie der evidenzbasierten Medizin oft nicht so eindeutig ist, wie behauptet. Plädiert wird dafür, zwar Fakten nach Möglichkeit unter Einbeziehung ihres Kontextes abzuprüfen, auf dieser Basis aber den demokratischen Diskurs nicht zu schließen, sondern zu öffnen. “Faktenchecks dürfen nicht dazu missbraucht werden, unliebsame Gesprächspartner und Positionen zu diskreditieren.”

Warum wir auf den Begriff „fake news“ verzichten sollten

Christian Wendelborn: Warum wir auf den Begriff „fake news“ verzichten sollten, Blogbeitrag Philosophie aktuell , philosophie.ch Swiss Portal for Philosophy 19.11.2018 fordert, dass die mit dem Begriff “fake News” benannten Phänomene, insbesondere politisch motivierte Desinformation politischer Medien, nach wie vor analysiert werden müssen. Den Begriff selbst hält er aus drei Gründen für ungeeignet:

1. “Fake News” hat keinen festen und kontextunabhängigen Gehalt

Viele Autoren “scheinen die Annahme zu teilen, dass die Wendung „fake news“ eine allgemeine Bedeutung, also einen festen und kontextunabhängigen semantischen Gehalt hat, die die Philosophin mit den Mitteln der Begriffsanalyse nur herausarbeiten müsste. Diese Annahme ist aber, wie ich denke, fragwürdig. Denn „fake news“ wird von verschiedenen Sprechern in unterschiedlichen Kontexten auf ganz unterschiedliche Gegenstände angewendet.” Die Analyse des Begriffs ist somit nicht wertfrei, sondern geht von der Voraussetzung des Verständnisses in bestimmten Teilen der Gesellschaft aus. Der Begriff könnte daher allenfalls kontextuell analysiert werden.

2. „Fake news“ ist ein politischer Kampfbegriff

Erstens wird „fake news“ in der politischen Auseinandersetzung gerne genutzt, um andere Meinungen und Personen zu diskreditieren und zu attackieren und komplexe Zusammenhänge (unangemessen) verkürzt darzustellen. Die Argumente und Positionen der jeweils anderen Seite werden mit Verweis auf fake news schnell zum Ausdruck der Irrationalität, Verführbarkeit oder ideologischen Verbohrtheit des Gegners. Man nutzt „Fake news“ zunehmend als politischen Kampfbegriff und damit mehr als rhetorisches Mittel und weniger als Werkzeug zur Aufklärung und Verständigung.” Zweitens charakterisieren Machthaber damit ihnen ungelegene journalistische Beiträge. Von diesem politischen Ballast kann der Begriff kaum befreit werden.

3. “Fake news“ ist ein epistemisches Schimpfwort

“Der Begriff hat nicht nur deskriptiven Gehalt, d.h. er beschreibt nicht einfach nur einen Sachverhalt. Er hat auch einen evaluativen und einen expressiven Gehalt. Der evaluative Gehalt besteht darin, dass mit dem Begriff immer auch eine Wertung abgegeben wird.” Der evaluative Gehalt enthält negative nicht-kognitive Einstellungen, die zu einer Abwertung und Herabsetzung des Anderen und eigener epistemischer Arroganz führen.

Schließlich werden mit dem Begriff unterschiedliche Phänomene benannt, die differenzierte Beschreibungen und Bezeichnungen erfordern: “Das eine Phänomen besteht in der Verbreitung von falschen oder irreführenden Berichten mit der Absicht, die eigene politische Agenda zu verfolgen. Hier wird ganz bewusst mit einem bestimmten politischen Ziel Meinungsbildung durch Desinformation betrieben. Das andere Phänomen stellt dagegen die Herstellung und Verbreitung von falschen oder irreführenden Meldungen mit dem Ziel der finanziellen Bereicherung dar.” (Clickbaiting, Bewertungsmanipulation usw.)

Fake News. Zur Psychodynamik des Unsinns

In einem psychologischen Experiment haben ein Psychologe und eine Wirtschaftswissenschaftlerin untersucht, welche Folgen das wiederholte Lesen von Falschinformation hat. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass durch die Wiederholung ein Gewöhnungseffekt eintritt. Die bekannte Information wird leichter verarbeitet, sie erscheint glaubwürdiger und ihre Weiterverbreitung weniger unmoralisch. “People were also more likely to actually share repeated headlines than to share new headlines in an experimental setting. We speculate that repeating blatant misinformation may reduce the moral condemnation it receives by making it feel intuitively true, and we discuss other potential mechanisms that might explain this effect.”

Christiane Gelitz: Wann wir hemmungslos Unsinn verbreiten. Auch wenn wir eine Falschmeldung als solche erkennen: Je öfter wir ihr begegnen, desto eher tragen wir sie selbst weiter, in: Spectrum.de 02.12.2019

Daniel A. Effron; Medha Raj: Misinformation and Morality: Encountering Fake-News Headlines Makes Them Seem Less Unethical to Publish and Share

Fake News und moralische Identität

Philipp Hübl: Bullshit, Fake-News und Verschwörungstheorien: Wo finden wir in unserem täglichen Informationsmüll die Wahrheit? Und gibt es sie überhaupt?, in: Neue Zürcher Zeitung 28.3.2019 vertritt die These, dass es bei Fake News hauptsächlich um moralische Identität geht: “Tatsächlich geht es bei Fake-News aber gar nicht primär um Wahrheit, sondern vor allem um Moral. Wenn Menschen Nachrichten fälschen und verbreiten, dann haben sie fast immer eine Motivation: Sie wollen ihr moralisches Weltbild bestätigen oder all das als «Lügenpresse» diskreditieren, was diesem Weltbild widerspricht.”

Dadurch wird nicht nur der Themenkreis der Fake News eingegrenzt. Sondern auch das “Stammesdenken”, die Bewahrung der zentralen Werte der eigenen politischen Gruppe, behindert die Reflexion, so scharfsinnig sie sich auch geben mag. “Je scharfsinniger seine Probanden waren, desto mehr neigten sie zu Fehlinterpretationen.”
Hübl unterscheidet zwei aktive Erzeuger von Fake News: Der Lügner (sagt vorsätzlich die Unwahrheit). “Der Bullshitter  (ein Fachwort des Philosophen Harry Frankfurt) hat zwar ebenfalls oft eine politische Agenda, nimmt allerdings die Unwahrheit nur billigend in Kauf. Was ihm in den Kram passt, verbreitet er. Ob es sich als wahr oder falsch herausstellt, ist ihm egal.” Das Ganze wird aber einem dritten Typus, dem “Trottel” verbreitet, “der den ganzen Unfug anklickt, Likes gibt und teilt.”
Alle drei sind der moralischen Identität, dem Stammesdenken, verhaftet und verkörpern jeweils nur die aktive und die passive Seite.
Hübls Empfehlung, sich durch “Wachsamkeit und Nachdenken” vor Fake News zu schützen, läuft allerdings in eine Aporie, da er die Funktion der Fake News erklärt, nicht aber ihre Entstehung, die gezielte Konstruktion, Kreativität, Poetik einerseits oder aber die Immunisierung des Mainstreamdenkens, das sich in bestimmte Fake Elemente verpuppt oder graduell in Fake News abgleitet, andererseits.
Seit Thomas Kuhns Paradigmenwechsel wissen wir außerdem, dass selbst die Wissenschaft sich in Paradigmen bewegt, nur innerhalb derer in der Regel  Hypothesen überprüft werden. Paradigmenwechsel erfolgen nur durch die Änderung der Voraussetzungen und Rahmenbedingungen.

Datenlobbyismus

Deutsche zahlen ganz gern Steuern

“Uno-Untersuchung. Deutsche zahlen ganz gern Steuern. Viele Bürger klagen oft über hohe Abgaben. Eine von der Uno veröffentlichte Untersuchung kommt aber zu dem Schluss: Die Akzeptanz des Steuersystems ist in Deutschland hoch – verglichen mit anderen Ländern“, so ein Artikel in Spiegel Online vom 03.01.2019.

Diese Meldung ging als Teil des automatisierten Nachrichten-Feeds der Deutschen Presse-Agentur (dpa) durch über 170 deutsche Medien. Lediglich ein Tageszeitungs– und ein Blog-Artikel setzten sich kritisch mit der Meldung auseinander. Das Problem: nichts daran stimmt. (mehr …)

Daten als Stimmungsaufheller-Fake

Neben der Funktion als Menetekel dienen Daten auch zur Stimmungsaufhellung:

Daten als Menetekel 3: 500000 Zuwanderer

Wie man aus einem Frühjahrsgutachten der Wirtschaftsinstitute Menetekel- Fake-News macht

“Wir brauchen Rente mit 70 – oder 500.000 Zuwanderer im Jahr” titelt die WELT https://www.welt.de/wirtschaft/article175616647/Wir-brauchen-Rente-mit-70-oder-500-000-Zuwanderer-im-Jahr.html 19.04.2018 und fährt im Artikel fort:
“Um die Beitragssätze angesichts der neusten Versprechen der Regierung stabil zu halten, sehen die Forscher nur zwei Optionen: Entweder die Deutschen arbeiten künftig bis über 70. Oder sie gewinnen junge, erwerbstätige Zuwanderer. In dem Fall müssten den Berechnungen zufolge jährlich mehr als 500.000 Menschen ins Land kommen.”

Mit dem entsprechenden Tenor ging diese Meldung durch die anderen Medien.

Im Frühjahrsgutachten der Wirtschaftsinstitute S. 61 steht das genaue Gegenteil:
“Ein Anstieg des Beitragssatzes zur Gesetzlichen Rentenversicherung könnte zwar grundsätzlich durch eine Erhöhung des Renteneintrittsalters über 67 Jahre hinaus oder durch eine höhere Zuwanderung jüngerer Erwerbstätiger verhindert werden. Beides scheint jedoch angesichts der notwendigen Größenordnungen wenig realistisch: Um den Beitragssatz zur Gesetzlichen Rentenversicherung nach Einführung der geplanten Leistungsausweitungen langfristig auf 20 Prozent zu deckeln, müsste das Renteneintrittsalter rechnerisch auf über 70 Jahre steigen oder die Zuwanderung jüngerer Erwerbstätiger in jedem Jahr über 500.000 Personen betragen.”

Sie fordern also weder das eine noch das andere, sondern kritisieren die Rentenerhöhung der Bundesregierung.

Buchseite 2 von 2
1 2